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Ausdruck meiner Hoffnungslosigkeit. Oft denke ich auf dem Schulweg, heute wirst du wieder eine Niederlage einstecken und zuhause dafür kritisiert werden. So höre ich dann von meiner Mutter oder der Oma Sätze wie: „Du bist entweder dumm oder faul; dumm bist Du nicht, also musst Du faul sein. Streng Dich doch mal an, Du kannst doch wenn Du willst. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Oder ich höre oft die Frage: "Was soll aus Dir nur werden?" Das tut weh, denn diese Kritik ist ungerecht. Noch heute fühle ich den Schmerz von damals, wenn ich zu Unrecht kritisiert werde.

      In der ersten Stunde haben wir immer biblische Geschichte. Natürlich kenne ich vieles bereits von dem, was uns der Lehrer Müller da erzählt. Es fällt mir aber auf, dass ich, ohne sie nachzulesen, auch die unbekannten Geschichten aus der Bibel am nächsten Morgen ohne weiteres wiederholen kann.

      Heute hören wir, wie Moses das Volk Israel aus der Ägyptischen Knechtschaft befreit und mit ihm 40 Jahre lang durch die Wüste zieht. Ich frage mich, warum er so lange durch die Wüste zieht, und nicht gleich ins Gelobte Land geht? Den Lehrer zu fragen wage ich nicht, denn die Tatsache als solche hat er so selbstverständlich vorgetragen, dass alle anderen Schüler sie sicherlich sofort begriffen haben, nur ich nicht, weil ich ja doof bin.

      Es werden fast 40 Jahre vergehen müssen, bis ich endlich1989 die Antwort erhalte. Gerade geht die Berliner Mauer auf. Jubel und Euphorie liegen über dem ganzen Land. Der ehemalige Berliner Bürgermeister und Bundeskanzler, Willy Brand, sagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Auch ich bin optimistisch, weil mein lang gehegter Wunsch nach Wiedervereinigung endlich in Erfüllung geht. Nun sitzen wir in der Kantine, und ich strahle meinen Optimismus aus. Da sagt mein Kollege Alexander „Günter weißt du, warum Moses mit dem Volk Israel 40 Jahre durch die Wüste gezogen ist?“ „Nein“, sage ich, „das wollte ich immer schon wissen.“ „Weil Menschen, die in Unfreiheit geboren sind, sich in der Freiheit nicht zurecht finden. Es müssen erst mindestens zwei neue Generationen heranwachsen, bis wir wieder wirklich ein Land sind.“ Er wird Recht behalten, selbst zwanzig Jahre später sind Ost und West noch immer weit voneinander entfernt.

      Als Hausaufgaben sollen wir den neunzigsten Psalm lernen. Vieles darin verstehe ich nicht, besonders den Vers: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Den begreife ich erst nach meinem fünfzigsten Geburtstag als das, was die Psychologen mit „Loslassen“ bezeichnen.

      Nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch sonst erzählt uns der Lehrer oft von seinen früheren Nachbarn, die offensichtlich orthodoxe Juden waren und am Sabbat nicht einmal selbst das Licht anschalten durften, weil es symbolisch für Feuer anzünden stand, und deshalb Müllers stets um Hilfe baten. Überhaupt haben es ihm sowohl die Juden, als auch alles Fremde angetan. Wird es in der Klasse zu laut, ruft er: „Hier geht es ja zu wie in einer Juden-schule.“ Oft greift er sich dann einen Störenfried und lässt seinen Zeigestock tanzen, vom "kleinen Tick" am Arm, wie es mir passiert ist, und was die Tante Ruth peinlicher weise beim Baden entdeckt hat, bis hin zur kräftigen Tracht Prügel.

      Wir hören auch mehrmals von seiner Wanderung durch Böhmen und dem merkwürdigen Kaffee (Türkischer Mokka), den man dort trinkt.

      Jedes Jahr um Ostern bange ich um meine Versetzung. So lerne ich schon früh die Existenzängste kennen, die andere erst im Alter von 50 Jahren heimsuchen werden, wenn sie um ihren Arbeitsplatz bangen müssen.

       Altena

      Tante Ruth hat ihre Ausbildung abgeschlossen und arbeitet nun als Gemeindehelferin in Altena in Westfalen. Dort im Pfarrhaus bewohnt sie ein möbliertes Zimmer.

      Wieder habe ich Ferien, und Tante Ruth nimmt mich mit. Wir sitzen im Zug und meine gute Tante liest die BILD Zeitung, was mir überhaupt nicht gefällt. Plötzlich sehe ich, wie eine fremde Frau mit unserem Koffer zur Tür geht. Erst denke ich an einen Irrtum meinerseits, dann aber alarmiere ich doch die Tante, die läuft schnell dem Koffer hinterher und ruft: „Das ist unser Koffer!“ Die Dame, die den Koffer trug, ist entsetzt und entschuldigt sich tausend Mal. Sie erklärt, dass die Frau, die ausgestiegen ist, sie gebeten habe, ihr den Koffer hinaus zu reichen.

      Die Ferien dort sind schön. Im Haus selber wohnen noch zwei Kinder, mit denen ich spiele. Der Pfarrer und seine Frau sind verreist, aber Jogurt, den sie immer essen, ist noch reichlich vorhanden, und so lerne ich ihn auch kennen und schätzen.

      In Tante Ruths Schrank finde ich „Feldgesangbücher“. im Format der Mundorgel. Diese Gesangbücher führten die Soldaten im II. Weltkrieg in ihrem Gepäck mit. Ich blättere ein wenig, da stoße ich auf das Lied: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, das gefällt mir so gut, dass ich es zu meinem Lieblingslied erkläre. Dies wird auch Jahrzehnte später noch so sein.

       Onkel Clemens

      Mein Patenonkel Clemens Kugelmeier war ein Schulkamerad meiner Mutter in Bergneustadt. Er wohnt in Rossenbach, einem Nachbarort von Waldbröl. Aufgabe der Paten ist es ja, beim Tode der Eltern die christliche Erziehung zu gewährleisten, und es spricht für die Liberalität meiner Mutter, dass sie damit auch den Onkel Clemens betraut hat, obwohl er katholisch ist. Sie selbst hatte in Bergneustadt am Katholischen Religionsunterricht teilgenommen, denn der evangelische Religionslehrer war ja ihr Bräutigam, der sie deshalb nicht mehr benoten durfte.

      Auch Onkel Clemens hat in Bonn studiert, er will Studienrat werden und absolviert gerade in Waldbröl sein Referendariat. Das ist für mich eine schöne Zeit, denn jetzt kommt er jeden Tag zu mir und macht mit mir Schularbeiten und beschäftigt sich auch sonst mit mir. Einmal malt er mit mir eine Alpenlandschaft, die ich dem Kurt-Walter schenken will, der immer in den Ferien in die Berge fährt.

      Onkel Clemens ist ein lustiger Vogel. Immer wenn ich krank im Bett liege, und er kommt zu Besuch, dann sagt er: „Was machst Du denn da, steh mal schnell auf.“ Inzwischen weiß ich ja, dass er dies nicht ernst meint. Meine Späße, die ich später mit Kindern machen werde, gehen auf ihn zurück.

      Viel wichtiger für mich ist es aber, dass ich jetzt mal einen Mann an meiner Seite habe, der mir in Teilen den Vater ersetzt. Viele, viele Jahre später wird er mir sagen, dass er sich mehr um mich hätte kümmern müssen, und ich erwidere ihm, dass gerade seine Zeit, als Referendar in Waldbröl, unendlich wertvoll für mich war und ich deshalb nichts vermisse.

       Kartoffelferien

      1952 werde ich wieder Ferien in Steimelhagen machen. Auf dem Land heißen die Herbstferien auch Kartoffelferien, und bei der Kartoffelernte möchte ich helfen. So wird mich am Abend der Onkel Paul-Walter mit dem Motorrad abholen. Aber ich werde nicht helfen, statt dessen spiele ich mit Hartmut und Christa im Garten. Aus Decken wird uns Onkel Paul-Walter ein Zelt bauen, und mit uns einen Drachen steigen lassen.

      In Steimelhagen ist der Weg zur Toilette etwas umständlich, denn die liegt im Kuhstall am Ende des Ganges. Ausgerechnet in der Nacht muss ich dringend dahin. Also Treppe runter, durch die Milchküche in den Stall. Als ich Licht mache, stelle ich fest, dass ich überhaupt keine Angst habe.

      Heute ist Sonntag, und der Kindergottesdienst aus Holpe, wo Onkel Paul-Walter Pastor ist, hat einen Ausflug nach Steimelhagen gemacht. Nun sitzen die Kinder vorm Haus und freuen sich über Kuchen und Kakao.

      „...doch nur faul“

      Heute geht meine Mutter mit mir zum Augenarzt. „Mein Sohn ist in der Schule schlecht, prüfen Sie doch bitte einmal, ob es an den Augen liegt, oder ob er nur faul ist.“ Bei diesem „nur faul“ spüre ich einen Stich in meinem Herzen. Es verletzt mich sehr, denn noch mehr als ich jetzt schon lerne, kann ich nicht. „Nein, an den Augen liegt es nicht“, sagt der Arzt.

      „Dann ist er also doch nur faul.“ Nun ist es sozusagen amtlich, und das tut sehr weh. Sie sollten sich alle irren, aber davon weiß ich noch nichts.

       Ein ereignisreiches Jahr

      Ostern 1954 bin ich in die vierte Klasse versetzt worden. Wie wird es weitergehen? Lehrer Müller fordert alle Schüler auf, die im nächsten Schuljahr die Hollenbergschule, unser Gymnasium, besuchen wollen, sich zu melden. Natürlich

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