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rechten Rheinseite. Danach fahren wir unendlich lange mit der normalen Eisenbahn. Oh, wie ist mir langweilig, ich lege meinen Kopf in Tante Ruths Schoß und sehe die Telegrafenmasten mit ihren weißen Isolatoren und den vielen Leitungen am Fenster vorbei flitzen.

      Endlich sind wir am Ziel. Wir sind Gäste der Familie Zeiler! Herr Zeiler ist der Direktor der großen Spinnstofffabrik Spindler, und auch ein Bewunderer meines Opas. Deshalb durfte erst meine Mutter und nun wir beide bei ihnen unseren Urlaub verbringen. Die Zeilers sind ausgesprochen nette Menschen.

      Eigentlich kann ich ja schon ganz gut sprechen, aber mit dem 'G' hapert es noch. Auf die Frage: "Wie heißt Du", antworte ich stets mit "Dünter." Nach dem Frühstück sagt Tante Ruth, dass wir heute das 'G' üben wollen. So ziehen wir los, bis wir an eine Wiese gelangen, an deren Ende ein kleiner Hügel liegt. Den steuern wir an. Plötzlich sehe ich neben mir im Gras einen blauen 5 Pfennigschein liegen, den ich aufhebe und in meine Jackentasche stecke. Am Hang des Hügels sitzend, üben wir erfolgreich, und bei der Rückkehr kann ich nun Frau Zeiler stolz erzählen, dass ich Günter heiße.

      Gut fünfzig Jahre später erhält diese Episode zwei Nachspiele. Meine liebe Tante Ruth hat Gewissensbisse und bittet mich um Verzeihung dafür, dass sie es nicht gewagt hat, diesen netten Menschen zu sagen, dass ich an jenem Tag Geburtstag hatte. Wie alt ich geworden bin, habe sie vergessen. Ich verzeihe ihr gerne, denn alles was sie tat, tat sie aus Liebe und in Vertretung ihrer Schwester, die sich derweil schon selbst verwirklichte, während Alice Schwarzer noch am Daumen nuckelte. Im Alter von 75 Jahren wird mir meine Mutter eingestehen, dass sie bei ihrem Beruf nur an sich selbst und nicht an ihre Kinder gedacht hat. Ich werde ihr erwidern, dass ich dies schon lange weiß, es aber sehr respektabel finde, dass sie dies nun hier so sagt.

      Kurz nach dem Geständnis meiner Tante leert eine Bekannte ihr Portemonnaie mit den Worten: "Dies sind meine kleinen Schätze." Heraus kommt auch ein blauer 5 Pfennigschein, und ich sage: "Ha, den kenne ich schon, den habe ich damals an meinem Geburtstag gefunden." Jetzt sehe ich, dass der Schein 1948 gedruckt wurde, ich damals also vier Jahre alt wurde.

      Wir gehen viel spazieren. Nun führt uns unser Weg an einer großen Buche vorbei und Tante Ruth zeigt mir, wie man Bucheckern öffnet, um die Früchte zu essen. Mh, schmecken die lecker!

      Heute geht es wieder heim. Wir stehen früh auf, und in der Dunkelheit gehen wir los, um erst die Fabrik zu besichtigen. Auweia, ist das ein Lärm! Wir gehen an einer Reihe Webmaschinen vorbei, und ich sehe, wie die „Schiffchen“ hin und her flitzen. Nur schnell raus hier. Auf dem Hof steht schon ein Lastwagen bereit, der uns bis Beuel mitnimmt, immer am schönen Rhein entlang. Das finde ich gar nicht langweilig. Wohin der LKW fährt? Ich weiß es nicht, vielleicht nach Hilden bei Düsseldorf? Dort steht nämlich das Stammwerk.

      Viele Jahre später kommt Herr Zeiler nach Waldbröl, und ich soll erraten, wer der Besucher ist, der nur mich besuchen will. Ich ahne schnell, dass es der gute Herr Zeiler ist, aber ich habe ihn doch ganz anders in Erinnerung, und so traue ich mich nicht, es zu sagen. Erst als er eine Tafel Schokolade aus der Tasche zieht und sagt: „Günter, Du isst doch gerne etwas süßes“, da traute ich mich dann doch.

      Leider weiß ich schon, dass ich auch an dieser Tafel Schokolade keine Freude haben werde, da sie, ebenso wie die letzte, noch in derselben Nacht von meiner Mutter aufgegessen wird. Sie zu verstecken, wage ich nicht. Ich weiß auch, dass meine Mutter sagen wird, sie habe in der Nacht sehr großen Hunger gehabt, und auf meinen Einwand, dann hätte sie doch ein Butterbrot essen können, erwidern wird, ich solle nicht albern sein.

      Hätte sie mir doch Geld gegeben, damit ich mir eine neue kaufen kann, wäre das ja in Ordnung gewesen. Schließlich hat doch eine Tafel Schokolade für ein Kind einen hohen Wert.

       Der Kindergarten

      Gerade zieht sich der Georg seine Lederhose an, da sagt die Tante Ruth zu ihm: "Heute nimmst Du den Günter mit in den Kindergarten." Das gefällt dem Georg gar nicht, aber was soll er machen.

      So ziehen wir los, ins Gemeindehaus unserer Kirchengemeinde, denn dort im Erdgeschoss befindet sich der Kindergarten. Da der Georg zu der Gruppe der großen Kinder gehört und ich zu den kleinen, hat er mit mir wenig zu schaffen. Darüber hinaus geht er ja schon bald zur Schule.

      Paul-Erhardt geht schon länger in den Kindergarten, so gehen wir später gemeinsam. Heute aber gehe ich mit meinem Vetter Hartmut in den Kindergarten. Er ist der Sohn von Onkel Paul-Walter, dem Bruder meiner Mutter und Tante Käthe, meiner Patentante. Inzwischen gehöre ich zu den Großen und Hartmut zu den Kleinen. Nach der Frühstückspause gehen wir Großen in den Nebenraum. Dort ist eine Rutsche aufgebaut, auf der wir munter hinunter rutschen. Weil Hartmut fremd ist, nehme ich ihn mit in den Nebenraum. Kaum aber sitze ich auf der Rutsche, ergreift Paul-Erhardt den Arm von Hartmut und führt ihn zurück zu den Kleinen, was nicht ohne Tränen abgeht. Warum ich dies geschehen lasse und nicht einschreite, ich weiß es nicht. Später schaue ich nach ihm, und er fühlt sich wohl.

      Heute ist Sommerfest im Kindergarten, und wir führen den Eltern das Märchen vom Froschkönig vor. Ich spiele die Rolle des Prinzen. Tante Ruth hat mir dafür extra meinen blauen Samtanzug angezogen. Es ist mit vier Jahren mein erster öffentlicher Auftritt. Als "Gage" erhalte ich ein Windrädchen. Nun sitzen wir beim Abendbrot und ich halte meinen Schatz stolz in die Höhe, aber der Georg will mein Windrad auch haben, und er zerrt und zieht so lange an meinem Besitz, bis der Stiel durchbricht. Natürlich bekommt er von der Tante Ruth dafür was hinter die Ohren, aber davon wird mein Windrad auch nicht mehr heile.

      Irgendwie gefällt es mir im Kindergarten nicht mehr, und, oh Wunder, ich muss auch gar nicht mehr hin. So spiele ich mit Kurt-Walter oder fahre mit unserem Bollerwagen in unserem Garten.

       Das Verhältnis

      Onkel Heinz ist ein Neffe meiner Oma. Von Beruf ist er Volksschullehrer, und nun, wir schreiben das Jahr 1949, heiratet er die schöne Ruth Mäuler. In der Küche von Tante Grete, seiner Mutter, wird fleißig gebacken und gekocht. Natürlich fallen für uns Kinder viele gute Dinge ab. Besonders lecker sind die dünnen, trockenen Waffeln, von denen wir besonders gern naschen. Die Kuchen und Torten allerdings sind tabu.

      Morgen also soll die Hochzeit sein. Die Gäste kommen von nah und fern, und weil mein Kinderbettchen belegt ist, schlafe ich im Bett des Belgischen Offiziers. - Ja, die Bundesrepublik wurde am 23. Mai 1949 mit Verkündung des Grundgesetzes gegründet, aber seine volle Souveränität hat Deutschland noch nicht wiedererlangt. Noch sitzen die Hohen Kommissare auf dem Petersberg bei Bonn und zitieren den Bundeskanzler zum Rapport.- Ich schlafe sehr schlecht, weil ich Angst habe, der Offizier könnte in der Nacht zurückkommen und mit mir schimpfen, weil ich in seinem Bett liege.

      Er kommt aber nicht, denn Hochwürden „haben“ ein Verhältnis mit der ebenfalls katholischen, ledigen Apothekerin. Sicherlich lassen beide bei ihren Begegnungen stets größte Vorsicht und Diskretion walten. Unglücklicherweise verursacht der Offizier aber mit ihr als Beifahrerin nachts einen schweren Autounfall, er fährt ihren VW Cabrio zu Schrott, und von da an gibt es im Dorf keine Geheimnisse mehr über die beiden.

       Schokoladenbrei

      Heute besuche ich Mechthild. Wir spielen ein wenig im Schlafzimmer der Eltern, dann gehen wir hinaus auf den Balkon.

      In der Schule gibt es Schulspeise. Die Militärverwaltung sorgt dafür, dass die Schulkinder eine warme Mahlzeit bekommen. Das Essen, oft eine Suppe, wird in der Küche der Soldaten gekocht und mit Militärlastwagen angefahren. Heute gab es außerdem für jedes Kind eine Tafel Schokolade.

      Mechthild hat ihre von außen vor das Küchenfenster gelegt, und weil die liebe Sonne scheint, gibt es nun Schokoladenbrei. Den essen wir mit großem Vergnügen und beschmierten uns dabei kräftig die Backen und Mäuler. Das gefällt Mechthilds Vater außerordentlich, und er kommt sogleich mit dem Fotoapparat und schießt drei Bilder von uns. Farbbilder, die ich 60 Jahre später zum ersten Mal sehe und digital aufbereite, denn sie haben im Laufe der Jahre einen gewaltigen Blaustich bekommen. Über das Ergebnis sind Mechthild und ich gleichermaßen erfreut.

       Die Todesnachricht

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