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Da habe ich doch wieder Glück gehabt.

      Mein Schulwechsel ist in Waldbröl nicht unbemerkt geblieben. Wie kann es sein, dass der Sohn einer evangelischen Pastorin auf eine katholische Schule geht? So regt sich das ganze Dorf auf. Wildfremde Menschen klingeln deshalb an unserer Haustüre. Und auch ich werde wiederholt auf der Straße darauf angesprochen. Der Sturm der Entrüstung legt sich auch nicht, weil nun auch der Uwe mit nach Ziegenhardt zur Schule kommt.

      Seit dieser Zeit bin ich allerdings gefeit vor der Frage: "Was sollen denn die Leute sagen?" Hätte ich mich nach ihnen gerichtet, ich hätte eine wunderbare Zeit und einen enorm großen Entwicklungssprung verpasst, und keiner hätte es mir gedankt.

      Als Hausaufgabe sollen wir einen Aufsatz über den Sonntag-morgen in der Familie schreiben. Uwe beschreibt das Frühstück mit Toastbrot und Marmelade, und dass er später mit seinen Geschwistern und seinem Vater, „Kirschkern-Weitspucken“ macht.

      Fast fünfzig Jahre später, 2003, finde ich Herrn Küpper wieder. „Mensch Günter“ sagt er, „was habe ich oft mit meiner Frau über Dich gesprochen, Du warst doch ein sehr eigenwilliger Junge.“ Auch erinnert er sich noch genau, wie der Herr Professor Claussen mit seinen Kindern „Kirschkern-Weitspucken“ gemacht hat. Da ist Herr Küpper 94 Jahre alt.

      Kurz vor meinem Besuch hatte er mit dem Bundespräsidenten über Schulpolitik korrespondieren wollen und war sehr enttäuscht darüber, dass sein Schreiben von einem Referenten höflich abgewimmelt wurde. Für Herrn Küpper war es „Eine Beerdigung erster Klasse.“ Jetzt kann ich auch mal etwas für meinen alten Lehrer tun und reiche eine Kopie des Briefes an Johannes Rau mit der Bitte weiter, ihn selbst zu beantwortet. Was der dann auch gerne tut.

      Zum 95. konnte ich Herrn Küpper noch gratulieren, 96 ist er nicht mehr geworden.

      In Ziegenhardt ist der Unterricht viel allgemeinbildender gehalten. Zum einen werden wir mit der Literatur vertraut gemacht. Theodor Storm´s "Pole Poppenspeeler" steht ebenso auf dem Lehrplan, wie "Die Glocke" von Schiller. Auch wenn wir sie nicht auswendig lernen müssen, so haben wir sie doch intensiv besprochen. Zum anderen gibt es das, was man als Technisch-Naturwissenschaftlichen Unterricht bezeichnet, und da habe ich durchaus die Chance, etwas beizutragen und zu lernen. Zum Beispiel, warum man keine Sicherungen „flicken“ darf. Genau das aber tut Alfons, Angestellter beim Elektrizitätswerk, als er uns eines Abends besucht und prompt bei uns eine Sicherung durchbrennt. Meine Oma ermahnt mich, gut aufzupassen, damit ich das später auch könne. Ich aber erwidere, dass man so etwas nicht machen darf. Worauf mich meine Oma, wie so oft, einen "dummen Bengel" nennt, schließlich sei Alfons doch beim RWE beschäftigt, da könne ich doch nicht sagen, er tue etwas Verbotenes. Der aber meint, ich hätte Recht.

      Gesungen wird viel (Wir sind jung, die Welt ist offen...), und Lehrer Küpper dirigiert sehr exakt mit seinem grünen Druckbleistift. Zu meinem Leidwesen darf ich aber nicht mitsingen. Meine, später als schöner Bass gelobte, Stimme wird als Brummen verunglimpft, und ich lerne schon in jungen Jahren, dass ich nicht singen kann. Diesen Glauben werde ich bis 1991 behalten.

      Heute ist der 5.5.55, und heute hat unser Lehrer Geburtstag. Da gibt es keinen Unterricht, sondern Herr Küpper liest uns eine schöne Geschichte vor, über einen der auszog das Reiten zu lernen.

      Dass am heutigen Tage die Bundesrepublik ihre Souveränität wieder erlangt, und die Hohen Kommissare den Petersberg räumen, erfahre ich erst viel später.

      In der Klasse gibt es ausgesprochene Talente, und es ist schade, dass sie nicht gefördert werden. Als Hausaufgabe sollten wir eine Bildbeschreibung anfertigen, und Bruno soll die seine nun vorlesen. Flüssig beschreibt er ein Bild, das eine Alpenlandschaft darstellt. Sein Aufsatz endet mit dem Satz: „Das Bild ist in Öl gemalt, und Ölgemälde gefallen mir immer gut.“ Klasse! Und dann fragt der Lehrer: „Und was steht davon in Deinem Heft?“ Darauf erwidert Bruno: „Die Überschrift.“

      Auf der Tafel sind sechs Bilder gemalt, die sollen wir abzeichnen und sie als Hausaufgabe sortieren und daraus eine Geschichte machen. So sitze ich nun daheim und frage mich, warum ich etwas verbal formulieren und mühsam aufschreiben soll, was man ohnehin sieht. Also fertige ich einfach einen Comic an mit Denkblasen und Sprachpfeilen. Für diese pfiffige Idee werde ich am nächsten Morgen auch noch gelobt. Seither kultiviere ich die Vereinfachung meines Lebens. Als ich Herrn Küpper knapp fünfzig Jahre später wieder begegne, erzählt er mir, das sei damals ein Intelligenztest gewesen.

      Wieder droht mir Unbehagen: Zwei angehende Lehrer wollen ihr Praktikum in Ziegenhardt machen. Gerade jetzt, wo ich mich wohl fühle, weil niemand wegen meiner Unzulänglichkeit auf mir rumhackt, kommen Fremde, und ich fürchte neue Demütigungen. Eine Hoffnung bleibt: In den großen Ferien fahre ich diesmal mit meiner Tante Ruth nach Hamburg, und wir fahren schon vor Ferienbeginn. Vielleicht, so hoffe ich, sind die Praktikanten ja schon wieder fort, wenn ich zurückkomme.

       Hamburg

      Auch an dieser Schule sind die Ferien das Schönste, und diesmal fahre ich mit der Tante Ruth nach Hamburg, genauer gesagt, nach Wentorf. Dort arbeitet sie jetzt als Seelsorgerin in einem riesigen Flüchtlingslager, das in zwei Kasernen untergebracht ist. Die Kasernen wurden vor dem Krieg für 3000 Soldaten gebaut, jetzt leben 10.000 Menschen hier.

      Um neun Uhr geht der Zug, vor lauter Aufregung kann ich nicht frühstücken. Der Hunger kommt erst, als wir im Zug sitzen, und Tante Ruth meint, die Brote seien für die lange Reise gedacht. Unterwegs müssen wir x-mal umsteigen, essen zu Mittag im Speisewagen und erreichen am Abend Hamburg. Dort essen wir im Bahnhof erst einmal Kartoffelpuffer, bevor die Fahrt mit einem uralten Vorortszug, in dem die Abteile nur von außen betreten werden können, weitergeht. Zuletzt steigen wir in einen Bus, denn wir wollen ja nach Wentorf.

      Der Bus hält im Ort, links der Dorfteich, rechts Geschäfte, u.a. ein Milchladen. Nach eines Tages langer Reise kommen wir endlich an, und Tante Ruth wird von der Lagerwache freundlich begrüßt. Später werde ich dort auf einer Tramptour stranden, und der Hinweis auf Frau Mehrhoff bewegt die Lagerwache, mich für eine Nacht in der Notunterkunft übernachten zu lassen.

      Nun betreten wir ihre "Wohnung". Es ist ein großes Zimmer mit Waschbecken. Eingerichtet ist es mit zwei Betten, einem Schrank, einer Anrichte und einer kleinen Sitzgruppe.

      Ihre "Küche", in der eine einflammige Gaskochstelle steht, wird auch von der Bibliothek auf der gleichen Etage zum Leimkochen benutzt. Das Badezimmer befindet sich bei Frau Genschow in der Nachbarwohnung.

      Gleich am nächsten Morgen vermittelt mir Tante Ruth Nachhilfeunterricht bei Frau Tolle, einer Lehrerin, die ich nun täglich für eine Stunde zum Üben aufsuche. Neben der Pflicht gibt es die Kür, und die besteht in gemeinsamen Ausflügen mit Vater, Mutter und Sohn Tolle zum Baden in der Elbe bei Geesthacht. Das Wasser ist klar und sauber, so klar, dass ich die bleichen Beine der toten Flusskrebse sehen kann. Das finde ich unappetitlich und als es etwas später zu Hause in Waldbröl Krabbensalat gibt, der genauso aussieht, verweigere ich die Nahrungsaufnahme.

      Aber auch sonst lerne ich in diesem Urlaub viel Neues, z.B., dass die Zeitangabe „vierteldrei“ viertel nach zwei bedeutet. Ich lerne den Umgang mit der Laubsäge, und bastele für Tante Ruth ein Schlüsselbord.

      Als ich heute Morgen aus der Haustür gehe, schneidet mir ein älterer Junge den Weg ab. Zwei kleinere Jungen stehen neben ihm. Erst unterhält er sich freundlich mit mir, merkt, dass ich rheinisch und nicht berlinerisch spreche, murmelt etwas von polnisch rückwärts, und fordert mich auf, ihm "mein Ding" zu zeigen. Das geht mir aber zu weit, da bedroht er mich ernsthaft, und bietet mir Prügel an. Ich schätze den Weg bis zur Haustür ab, und weiß, dass ich, das Überraschungsmoment nutzend, bis dorthin flitzen kann, ohne dass er mich einholen wird. Schwupp bin ich weg. Später wird sich die Tante Ruth diesen Lümmel zur Brust nehmen, danach ist Ruhe.

      Jetzt liegen wir auf unseren Betten und halten Mittagsruhe. Da weckt mich meine Tante, weil sie in der Küche ein Rascheln hört. Ich schaue nach, die Küche ist leer. Kurze Zeit später höre auch ich ein Rascheln, wieder schaue ich nach, und sehe zwei kleine Mädchen. "Was macht ihr hier“, frage ich streng. Antwort: "Nüscht!!“ "Und was hast Du da in Deinem Taschentuch?" "Nüscht!!" "Dann lass mal sehen."

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