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läufst durch die Gegend wie in Trance, als hättest du was an den Augen? Und Anja ist plötzlich so still geworden?«

      »Oh, das sind wahrscheinlich nur die gewöhnlichen Entwicklungsschübe bei uns Pubertierenden.«

      »Wie klappt’s denn mit den Nachhilfestunden?«

      »Ausgezeichnet. Wir behandeln gerade die Fresnelsche Zonenkonstruktion, die auf dem Huygensschen Prinzip beruht.«

      »Die Fresnelsche … aha.«

      Dank Karolas Hilfe verdrückte ich mich nach solchen Kontrollgesprächen problemlos ins Museum. Meine Erzeugerin – dieses altmodisch taktvolle Wesen – hätte niemals die Aufdringlichkeit besessen, sich an Ort und Stelle von meinen Fortschritten in der Theorie der Fresnelschen Zonenkonstruktion zu überzeugen.

      Was Karola in ihrer unfreiwilligen Freizeit trieb?

      Ich war irgendwann in ihr Zimmer geplatzt, und da lag sie auf ihrem Bett, einen Stapel uralter Modezeitschriften mit aufgefalteten Schnittmusterbogen neben sich, die meine Mutter seit ihrem vierzehnten Lebensjahr sammelte …

      Mir klangen Montags Fragen noch deutlich im Ohr, als ich das Nationalmuseum betrat. Seitdem ich mit neuneinhalb Jahren die Welt des Geistes entdeckt hatte – das war eine Taschenbuchschwarte über Leibniz’ Monadologie gewesen, von der ich so gut wie nichts verstand –, hat mich die Magie der Begriffe nie wieder losgelassen.

      Auch heute noch, als Arzt und Lehrer, finde ich es immer wieder überraschend, welche andere Realität hinter den ordinären Erscheinungen verborgen liegt, wie tief das Instrument des Geistes reichen kann, wenn wir uns seiner nur mit dem nötigen Scharfsinn bedienen und uns nicht im Dickicht der Begriffe und falschen Schlussfolgerungen verheddern.

      An diesem Tag war die Gemäldegalerie ein Tohuwabohu aus durcheinanderwirbelnden Schülern der dritten Klasse. Die Museumswächter hatten eine geschlossene Kordelabsperrung um sie gebildet, die sie in den Händen hielten, um sie wie eine Herde ungestümer junger Schafe von den Bildern fernzuhalten und gleichzeitig von einem Raum zum anderen zu treiben.

      Ich musste eine volle halbe Stunde warten, bis der Spuk vorüber war. Doch auf Montags Gesicht zeigte sich nicht die geringste Spur von Ungeduld oder Erschöpfung.

      »Du hast über meine Fragen nachgedacht, Marc?«

      »Es scheint so, als wenn die Gefühle den Dingen eine Art – na, ja … eine Art Wertprofil verleihen?«

      »Hm, was lässt dich bei der Antwort zögern?«

      »Wenn sie den Wert der Dinge ausmachen – und was sollte ihn eigentlich sonst ausmachen? –, dann scheint im Leben alles von den Gefühlen abzuhängen?«

      »Ja, ausgezeichnet. Die Gefühle haben also die Funktion, den Dingen ihren Wert zu verleihen? Und weiter?«

      »Mit den beiden Hauptkategorien meinen Sie vermutlich, dass sie positiv oder negativ sind?«

      »Sie sind sogar die einzigen Qualitäten im uns bekannten Universum, denen diese besondere Eigenschaft zukommt, das wichtigste Faktum nach Materie, Energie und Bewusstsein. Man glaubt vielleicht, dass auch Dinge – ein Hammer als Werkzeug, ein Gesetz, das uns vor Verbrechern schützen soll, ein Fahrzeug, das uns ins Krankenhaus befördert, eine Operation, die unser Leben rettet – positive Qualitäten haben könnten.

      Aber solche positiven Qualitäten – als Mittel – sind immer nur abgeleitet. Am Ende der Kette muss die positive Gefühlsauszeichnung stehen, das, was sich in der Attraktivität des Gefühls zeigt. Ohne sie wären die Mittel nichts oder nur eingebildet.«

      »Und warum ist das wichtig?«, fragte ich.

      »Weil es viel mehr Folgen hat, als man auf den ersten Blick übersieht. Du wirst deine Reise nach innen nie erfolgreich antreten können, wenn dir diese fundamentale Einsicht fehlt.«

      Ich dachte, dass er mir nun erläutern würde, welche Bewandtnis es damit hatte. Aber Montag schwieg, offenbar in der Annahme, dass ich schon die richtigen Fragen stellte, und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

      Seine Hände spielten mit einer der getrockneten Blumen, die in der Vase auf dem Boden neben ihm standen. Diese Blumen – ein großer Strauß bunter Feldblumen – hatten irgendeinen Zweck, sie waren mir schon früher aufgefallen. Manchmal zerkrümelte er die Blüten mit den Fingerspitzen, dann bedeckte der feine Staub seine Hosenbeine und den Boden um ihn her, und seine bewegungslose Gestalt bekam ein wenig vom Aussehen eines Buddhas, den die Gläubigen mit mitgebrachten Blüten bestreut hatten.

      »Ich sehe in den Gefühlen zugleich Bedeutungen«, fuhr ich zögernd fort. »Über das, was ist und sein wird. Als könnte ich darin die Zukunft lesen?«

      »Nein, darum geht es nicht. Dieses Faktum wäre bloß hinzugedacht. Ein häufiger Fehler.

      Was ich meine, ist die reine positive oder negative Gefühlsqualität, ein inneres Phänomen, das nichts mit Sinneswahrnehmungen oder Gedanken zu tun hat.

      Genauso, wie der Schmerz oder die Lust unabhängig sind, obwohl sie sich mit anderen Wahrnehmungen vereinigen können.

      Das Gesicht einer schönen Frau oder der Gedanke daran mit dem Gefühl der Schönheit.

      Wenn du die innere Welt erforschst, wirst du entdecken, dass sich diese inhaltlichen Qualitäten – in unserem Beispiel die Gesichtszüge – mit den Gefühlsqualitäten verbinden und eine dritte, neue Qualität erzeugen.

      Weil die Dinge selbst keinen Wert haben, erreichen sie es durch Teilhabe an der Attraktivität des Gefühls und bereichern dabei das Gefühl mit ihrer Eigenart – durch Farben, Formen, Beziehungen.

      Das ist der genauere Sinn der Redewendung, die Schönheit liege immer im Auge des Betrachters.

      Oder, allgemeiner gefasst, das Glück liege nicht in den Dingen, sondern in der Bewertung durch uns. Und jetzt kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt.

      So entsteht der Anschein der Objektivität! Da wir den inneren Raum selten in dieser Weise inspizieren, da wir nicht in der Lage sind, ohne Übung von den einzelnen Komponenten zu abstrahieren, gaukelt die Natur uns vor, das Gesicht selbst sei schön.«

      »Und weshalb versucht sie das? Wozu spielt die Natur dieses falsche Spiel?«

      »Um uns auf die Wertvorstellungen der Gemeinschaft einzuschwören. Aber diese – angeblich objektiven und allgemeingültigen – Vorstellungen sind nicht nur zweckmäßig, sie haben nicht nur die Funktion, Bräuche, Moden und moralische Verhaltensweisen zu schaffen.

      Sie hindern uns auch an der freien Entfaltung unseres Wesens und unserer Individualität. Sie schaffen Fanatismus und Rechthaberei. Scheinbar objektive Werte sind die tieferen Ursachen für Faschismus und Nationalsozialismus, für Terrorismus und Fundamentalismus.

      Denn ohne als bindend angesehene Ziele gäbe es nur Pluralismus und Abstimmungen, wäre die Toleranz das beherrschende Prinzip unseres Zusammenlebens. Scheinbar objektive Werte waren die geistigen Voraussetzungen für die Ermordung der Juden, um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte zu nennen.«

      Ich starrte Montag ungläubig an. Die Leichtigkeit, mit der er von einem harmlos erscheinenden inneren Phänomen wie den Gefühlen, die sich mit unseren Wahrnehmungen verbinden, zu den Problemen der Geschichte gelangt war, löste so etwas wie ein Erdbeben in mir aus.

      »Es sind nur Bilder – du erinnerst dich? Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst vor der grenzenlosen Vielgestaltigkeit des Lebens besänftigen, die uns in diesem groben Zustand des Bewusstseins erdrücken würde. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind.«

      10

      Für Anfang Februar war das Wetter erstaunlich sonnig. Der Schnee auf den Eisflächen schmolz. Die Bäume reckten

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