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      Der Erzengel gibt sich empört: „Um Himmels Willen, nein, ich würde niemals … Was denkst du von mir?“

      Ratio gebietet, die Frage nicht zu beantworten und meinen Vorgesetzen auch nicht daran zu erinnern, dass er und sein Vorstandskollege vor nicht allzu langer Zeit einen entsprechenden Antrag auf Änderung des Regelwerkes eingebracht haben, der glücklicherweise abgeschmettert worden ist.

      Das Regelwerk und meine moralischen Grundsätze. Läge es in meinem Charakter, beide über den Haufen zu werfen, wäre ich schon längst drittes Vorstandsmitglied statt Hampelmann für die Fürsten des Lichts und der Finsternis. Das macht mich zum Schicksalsgenossen von Väterchen Zeit, der sich ebenfalls standhaft weigert, den beiden verbotene Einblicke in die Zukunft zu gewähren. Karriere-Killer Rückgrat, nichts Neues. Im gegenständlichen Fall Adieu Spesenerhöhung, die angesichts meiner Entscheidung, vor einer Zu- oder Absage die Hintergründe gründlicher zu recherchieren, verpufft. Michael verlässt mein Büro mit kämpferischen Zornesfalten auf der Stirn. Das Klack der Türe klingt nicht nach Abschluss, sondern nach dem Eröffnungs-Gong für eine weitere Runde.

      Wieder aufgenommene Bürogedanken

      Endlich Ruhe. Nachdenken ist angesagt. Diesmal kommt nicht der Punchingball zum Einsatz, sondern das interaktive Whiteboard. Gedankenblitze transformieren sich in Kritzeleien, die sich im verenglischten Business-Jargon hochgestochen Mind-Maps nennen, und wandern automatisch auf meinen PC. Wunderbare Digitalisierung. Kreativer bin ich dadurch allerdings um keinen Deut.

      Am Ende meines geistigen Ergusses thronen die Worte Stop for Death rot umwölkt in der Mitte der Tafel. Tentakelgleich winden sich Linien mit weiteren eingekreisten Begriffen über die gesamte Fläche. Neugierde ist da zu lesen, Depression oder Hoffnung auf besseres Jenseits. Eine globale Schwermut-Epidemie klingt vielversprechend. Der zu erwartende Anstieg an Selbstmördern würde meine Arbeit erleichtern, außerdem wohnt gesellschaftlicher Malaise die Tendenz zur Ausbreitung inne. Aber genau in Letzterem liegt der gravierende Nachteil. Meine Persönlichkeit zeigt ohnehin einen gewissen Hang zur Schwermut und ich will nicht riskieren, mich mit einer handfesten Depression zu infizieren.

      Dann also lieber auf Hoffnung setzten. Nur leider hat das fügsame, apathische Warten auf ein besseres Jenseits ebenfalls etwas sehr Deprimierendes. Also verwerfe ich auch diese Option. Der aus der Neugier entwachsende Gedankenfortpflanz reizt mich ohnehin am meisten. Schließlich ist diese einer der grundlegenden menschlichen Instinkte. Wirkliches Erfolgspotenzial bekommt dieser Pfad durch die Abzweigung in Richtung Esoterik. Kontakt mit dem Jenseits stand bei dieser Fraktion schon immer hoch im Kurs. Was, wenn man die Menschlein dazu verführen könnte, zu glauben, dass sie die Grenze in beide Richtungen überschreiten, ungestraft einen Spaziergang auf der anderen Seite unternehmen könnten?

      Scharlatane, die ich für meinen Zweck einspannen kann, finden sich unter den Eso-Gurus haufenweise. Grenzerfahrungsparty mit dem Ehrengast Sensenmann. Ich google „mit Verstorbenen in Kontakt treten“ und erhalte achthundertelftausend Hits. Ein paar Klicks weiter und ich stoße auf das Angebot eines Jenseitsmediums, das sich als erfahrener Führer durch das Schattenreich anpreist, seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ein Geschenk Gottes. Derartige Hybris ist abstoßend, aber die Eso-Fraktion maßt sich gerne spezielles Juju an. Hier kann ich ansetzen. Die konkrete Umsetzung benötigt noch einiges an Detailarbeit, aber fürs Erste bin ich zufrieden. Die Erreichung meiner Quote rückt in den Bereich des Möglichen. Sorgen über eine Überernte und in Folge zu wenig Saatgut, um eine dauerhafte Versorgung mit nachwachsenden Seelen zu gewährleisten, stelle ich im Augenblick hinten an. Eines nach dem anderen. Als nächstes steht ein Besuch bei meinem Kollegen und Freund Väterchen Zeit auf dem Plan. Die Langfristigkeit unserer Perspektive eint uns. Ich hoffe, dass er etwas Licht auf das Rätsel von Michaels Kardinal werfen und mir wieder mal aus der Patsche helfen kann.

      Väterchen Zeit

      Sein Büro liegt nur zwei Türen weiter. Abgeschiedener Trakt. Ende eines langen Flurs. Exil für die Unbequemen. Entgegen landläufiger Vorstellungen ziert sein Büro keine überdimensionierte Sanduhr, sondern ein kompliziertes Konstrukt aus ineinandergreifenden Möbius Bändern, auf denen sich Kugeln mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen. Konstant in eine Richtung läuft hier gar nichts.

      Väterchen Zeit verschwendet kein unnötiges Wort. Fragend zieht er seine rechte Augenbraue in die Höhe und ich nicke stumm. Damit ist seine Einladung zu einer Kanne Butterfly-Pea-Tee angenommen. Er ist ein Aficionado und auch ich habe das milde blaue Gebräu in unzähligen Besuchen schätzen gelernt. Wohliges Schweigen umfängt uns, während er die getrockneten Blüten mit kochendem Wasser übergießt und den Tee vier Minuten ziehen lässt. Es dauert durch die erste Tasse hindurch an, erst dann fordert er mich mit einem knappen Kopfsenken auf, mein Anliegen vorzubringen.

      „Michael ist hinter einer Seele her. Im Logbuch des Betragens finden sich keinerlei Hinderungsgründe, aber ich habe meine Bedenken.“

      Wortlos schiebt er mir Füllfeder und Zettel zu, auf den ich in gestochenen Druckbuchstaben den Namen des Kardinals schreibe. Ahnungslose würden den Apparat vor dem Fenster für ein gewöhnliches Fernrohr halten. Der Herr der Zeit lässt sich in dem davor platzierten Sessel nieder und presst seinen Daumen auf einen Scanner, was die Verschlussklappe aufschnappen lässt. Jedem anderen ist es strengstens verboten, einen Blick durch das Gerät und damit in die Zukunft zu werfen. Väterchen Zeit adjustiert mittels der silbernen Steuerungskonsole Koordinaten und starrt beinahe fünf Minuten schweigend in den Himmel, bevor er erneut mit seinem Daumen die Anlage vor unerlaubten Zugriffen schützt.

      „Das moralisch Verwerfliche ist da, schlummert unter einem dünnen Furnier aus gesellschaftlichen Konventionen. Maximal zwei Wochen und der Kardinal gehört laut Vorschriften eindeutig zu Luzifer. Welche Untat er begehen wird, verrate ich dir natürlich nicht. Nun musst du entscheiden, ob du diese Seele jetzt erntest, Böses verhinderst, aber dafür die Scheinheiligkeit eines Kirchendieners in alle Ewigkeit aufrechterhälts, oder ob du die Missetat geschehen lässt und dein Kardinal die Unendlichkeit in Schande unter zwielichtigen Kumpanen fristet.“

      Laut letztem Amnesty-Bericht wird zwar in über hundertvierzig Staaten, nicht aber in der Hölle, gefoltert. Das Schamgefühl ist die einzig wirkliche Strafe für die gefallenen Seelen, während ihre himmlischen Gegenstücke in Selbstgefälligkeit baden. Zwar halten es einige mit „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“, aber einem Mann der Kirche würde die Ächtung vermutlich doch zusetzen. Zumindest würde ihn der Spot seiner Ewigkeits-Genossen peinigen.

      Ein delikates Dilemma. Nur der Große Venture Capitalist sieht die Welt in simplem Schwarz-Weiß. „Was rätst du mir?“, frage ich wider besseres Wissen, aber natürlich enthält sich mein Gegenüber jeglicher Beurteilung. Ich muss die Angelegenheit also mit meinem Gewissen ausmachen, die Konsequenzen auf meine Schultern laden. Schändliches verhindern oder die Genugtuung, eine verdorbene Seele ihrer wohlverdienten Strafe zugeführt zu haben, was wiegt stärker?

      „Sag mir nur eines“, bitte ich meinen Freund, „besteht die Gefahr, dass er mit dieser verdammten Beichtklausel davonkommt?“

      Väterchen Zeit schüttelt sein weißes Haupt: „Zu eindeutig fehlende Reue.“

      Damit sind meine inneren Würfel gefallen. Ich bedanke mich bei meinem Verbündeten und wir verabschieden uns mit einem herzlichen Händedruck.

      Da ich Michael kein direktes Nein in sein Engelsgesicht schleudern will, bleibt mir nur die Taktik des Zeit-Schindens. Maximal vierzehn Tage, hat mein Kollege

      gesagt, das lässt sich hinbiegen. Damit habe ich genügend Stunden im Büro vergeudet. Den Rest des Tages widme ich mich meiner Kernaufgabe, dem Durchtrennen von Lebensfäden. Morgen werde ich dann weiter an meinem Projekt Grenzerfahrungsparty mit dem Sensenmann feilen.

      Tagewerk

      Die gestrige Ernte war erfolgreich. Saubere Handarbeit,

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