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gelaufen wäre, wenn wir schon im Oktober gefahren wären und ich nicht krank geworden wäre.

      Paris, 22. Dezember 1894

      Ich habe den kleinen Hugo heute gesehen, Jeanette hat mich besucht. Er ist so winzig und noch so zerknautscht und ganz müde. Jeanette sah auch müde aus, sie hat nur kurze Nächte. Ich habe ihr dann beim Stillen zugesehen, es war so beruhigend.

      Paris, 23. Dezember 1894

      So kurz vor Weihnachten so ernste Angelegenheiten. Ich halte das Petit Journal in Händen. Wieder bringt die Titelseite das neuste Geschehen farbig zur Geltung. Ein Gerichtssaal und die Anklage und Verurteilung von Capitaine Dreyfus. Seine Schuld ist bewiesen. Sein Glück, er hat keine Bombe geworfen und auch nicht gemordet, sodass ihm die Guillotine erspart bleibt. Capitaine Alfred Dreyfus wird auf eine Insel verbannt, in ein koloniales Gefängnis, viele Tausend Kilometer von Frankreich entfernt. Ich habe nicht das Interesse, mir diesen Ort in meinem Atlas herauszusuchen, heute nicht und auch in den nächsten Tagen nicht. Er tritt eine Reise an, so wie ich in ein paar Wochen, vielleicht, doch meine Zukunft wird fröhlicher sein. Wenn er auch seine Strafe verdient hat, so tut mir doch Lucie Dreyfus unendlich leid.

      Paris, 28. Dezember 1894

      Das Weihnachtsfest liegt hinter uns und auch mein erster Hochzeitstag, an dem Victor und ich getrennt sind. Mutter war die ganze Zeit bei mir. Vater ist seit dem 15. Dezember hier. Sie geben mir viel Kraft. Ich liege nicht mehr den ganzen Tag im Bett, schon seit einigen Tagen nicht mehr. Dr. Coulaud ist trotzdem nicht mit mir zufrieden, mein Blutdruck ist weiterhin sehr anfällig, das Herzrasen hat aufgehört und ich kann auch wieder aufstehen, aber ich merke selbst, dass es mich noch anstrengt. Ich fange schnell an zu schwitzen und in der Nacht schlafe ich oft unruhig. Zu all diesem gibt es noch eine ganz große Neuigkeit. Heute hat mich Dr. Coulaud wieder einmal als Schwangere und nicht als Herzkranke untersucht. Er meinte, es schon vor ein paar Tagen gehört zu haben und heute wieder und diesmal ganz deutlich. Er sagte, er würde zwei Herztöne in meinem Bauch hören. Ich habe es erst gar nicht verstanden, es sind ja auch zwei Herzen, meines und das des Kindes, aber Dr. Coulaud schüttelte nur den Kopf und erklärte mir, dass es wohl zwei Kinder wären. Ich erwarte Zwillinge, ich wusste im ersten Moment nicht, ob ich mich freuen sollte. Natürlich habe ich mich gefreut. Dr. Coulaud hat mir prophezeit, dass es dadurch aber nicht einfacher wird. Er empfiehlt mir, nun doch in ein Krankenhaus zu gehen, aber nicht hier in Paris. Dr. Coulaud hat uns ein Sanatorium empfohlen. Es liegt in der Bretagne, bei einem Ort namens Allaire. Ich habe noch nie davon gehört. Vater kennt das Sanatorium und Dr. Coulaud empfiehlt es, weil er dort vor ein paar Jahren selbst als Arzt praktiziert hat. Es ist ein ruhiger Ort. Nach Nantes sind es keine hundert Kilometer und nach Vannes keine fünfzig. Plötzlich sehne ich mich nach einer neuen Umgebung.

      Paris, 31. Dezember 1894

      Heute ist Silvester. Ich habe meine Eltern um mich, doch der wichtigste Mensch in meinem Leben fehlt mir, Victor hat mir zu Weihnachten gefehlt und überhaupt die letzten anderthalb Monate. Ich habe ausgerechnet, dass er sich jetzt wohl bereits in Australien befindet und dass sein versprochener Brief schon auf dem Weg zurück nach Europa sein muss. Seitdem ich weiß, dass es zwei Kinder sind, melden sie sich auch schon. Ich habe gestern das erste Mal einen Tritt gespürt. Im Moment ist es ruhig, aber in der Nacht und heute Vormittag war es deutlich zu spüren. Jetzt lässt es sich nicht mehr leugnen, dass etwas Lebendiges in mir heranwächst.

      1895

      Allaire, 4. Januar 1895

      Das Sanatorium liegt außerhalb von Allaire. Mit dem Zug sind Mutter und ich bis nach Redon gefahren, dem nächstgrößeren Ort, denn Allaire ist nur auf der Straße zu erreichen. Wir haben eine Kutsche gemietet und sind vorsichtig, in langsamer Fahrt, zum Sanatorium gebracht worden. Ich war bereits angemeldet, es war alles vorbereitet. Am Nachmittag habe ich meinen Arzt kennengelernt, Dr. Delanis. Er hat mich noch einmal untersucht und mich dann auf mein Zimmer bringen lassen, ein Einzelzimmer, damit ich möglichst viel Ruhe habe.

      Allaire, 5. Januar 1895

      Von dem Sanatorium habe ich bislang noch nicht viel gesehen, den Eingang, zwei Flure und mein Zimmer, dessen Fenster auf einen Park hinausgehen. Draußen ist es sehr winterlich. An den Park grenzt ein Wald. Die Bäume tragen natürlich noch kein Laub und so konnte ich einen See durch den Wald hindurchschimmern sehen. Heute Morgen hat gleich Dr. Delanis nach mir geschaut. Der Aufenthalt hier soll mir in erster Linie Ruhe geben. Das Sanatorium ist nicht für Wöchnerinnen eingerichtet und es ist bei mir ja auch noch nicht so weit. Die Patienten des Sanatoriums leiden an Hautkrankheiten, an Flechten und Schuppen. Im Park gehen einige von ihnen spazieren. Ein Mann hatte sein Gesicht fast vollständig in Verbänden verhüllt. Dr. Delanis hat mir erklärt, dass im Sanatorium mit Salben und Heilbädern praktiziert wird und dass es außer mir derzeit noch siebenunddreißig andere Patienten gäbe. Viele blieben nur wenige Wochen, selten länger.

      Allaire, 6. Januar 1895

      Ich habe mein Zimmer bislang nicht ein einziges Mal verlassen. Ich wäre gerne in den Park gegangen, aber es war die Tage sehr regnerisch und nach der Reise von Paris hierher soll ich mich die nächste Zeit so wenig wie möglich bewegen. Ich liege im Bett, und wenn es ganz still ist und wenn ich beinahe einschlafe, erhalte ich einen Tritt in meinem Bauch. Ich beschwere mich nicht, denn ich liebe es. Am Vormittag habe ich meine Hebamme kennengelernt, Schwester Armelle. Sie lebt in Redon, gehört also nicht zum Personal des Sanatoriums. Sie ist mit Dr. Coulaud bekannt und genießt sein Vertrauen. Der Plan mich nach Allaire zu schicken schloss gleich zu Beginn Schwester Armelle mit ein. Sie wird mich zwei- oder dreimal in der Woche besuchen, ansonsten bin ich durch Dr. Delanis bestens versorgt. Es gibt noch zwei Krankenschwestern des Sanatoriums, Schwester Catherine und Schwester Veronique, die ich regelmäßig sehe. Schwester Veronique ist noch sehr jung, erst achtzehn. Sie macht mir das Bett, lüftet, bringt die Mahlzeiten und hat immer sehr wenig Zeit. Schwester Catherine ist in meinem Alter und sie kommt morgens, mittags und abends, um Temperatur zu messen oder mir meine Medikamente zu geben. Alles, was ich zunächst bekomme, hat noch Dr. Coulaud verordnet.

      Allaire, 8. Januar 1895

      Ich bin kaum ein paar Tage hier, da habe ich schon lieben Besuch bekommen. Mein Zimmer war fast zu klein. Tante Carla und Onkel Joseph und Tante Danielle und Onkel Eugène. Alle haben etwas mitgebracht, Spezialitäten aus Vannes, Käse und Wurst und Wein. Dies alles kann ich gar nicht alleine essen und vom Wein darf ich schon gar nichts, auch muss ich wohl alles vor den Schwestern verstecken. Es war ein lustiger Nachmittag, nur schade, dass ich nicht in den Park durfte, ich wäre so gerne mit meinem Besuch spazieren gegangen, es war heute so schön sonnig.

      Allaire, 13. Januar 1895

      Meine Finger sind stark geschwollen. Ich habe es an meinem Trauring gemerkt. Gestern Abend konnte ich ihn kaum abnehmen und heute Morgen nicht wieder auf den Finger bekommen. Schwester Armelle meint, ich solle ihn bis zur Geburt nicht mehr anlegen.

      Allaire, 15. Januar 1895

      Anne, Bernhard und Roger waren heute mein Besuch. Die Cousins habe ich eine Ewigkeit nicht gesehen. Bernhard sprach davon, für seine Firma nach Madagaskar zu gehen, aber wohl erst im nächsten Jahr. Roger hat noch keine Pläne und Anne ist verliebt, wir haben nicht mehr darüber gesprochen, weil ja die Jungs dabei waren, aber ich weiß es noch von ihrem letzten Besuch in Paris, da hat sie es mir schon erzählt und ich sehe es ihr auch an. Es war wieder ein schöner Nachmittag, der diese Eintönigkeit hier unterbricht. Erst besuchen mich die Alten und heute die Jungen, das sind Rogers Worte. Sie haben mir versprochen, wiederzukommen. Vielleicht kommt Anne ja einmal alleine, damit wir richtig miteinander reden können.

      Allaire, 18. Januar 1895

      In den letzten Tagen

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