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Nach dieser Episode wird es eine Zeitlang ruhiger um meine Mutter. Sie wirkt oft in sich gekehrt und abwesend, und sie fährt sich nur noch selten durch die Haare, ich versuche, sie aufzuheitern, doch es gelingt mir nicht oft, meistens sieht sie mich nur ernst und sehr nachdenklich an, und wenn ich sie dann frage, was sie gerade denkt, antwortet sie mir nicht. Ich spüre ihre Enttäuschung und Qual, aber ich weiß nicht, wie ich sie lindern soll. Und sprechen darf ich darüber natürlich mit niemandem.

       Irgendwann wird sie krank, kann nichts mehr essen, sondern sitzt nur noch auf ihrem Platz in der Küche und drückt sich ihren Arm gegen den Bauch. Geht zum Arzt, zu noch einem Arzt, der ihr rosafarbene Tabletten verschreibt, doch es ändert sich nichts, die Schmerzen bleiben. Wenn ich mittags vor ihr sitze und esse, fühle ich mich ganz schlecht, weil ich etwas runter bekomme und sie nicht, das Ticken der Küchenuhr klingt überlaut in meinen Ohren, denn meine Mutter redet auch fast nicht mehr, nur das Nötigste, und das mit einer gepressten Stimme, selbst das Sprechen scheint ihr Schmerzen zu bereiten, deshalb sitzt sie nur noch regungslos auf ihrem Stuhl, mit dem Arm über ihrem Bauch, als sei er eine Art Gürtel, und betrachtet mich. Ich weiß nicht, was ihr dabei durch den Kopf geht, aber ich mag diese Blicke nicht, sie scheinen irgendetwas aus mir herauszulösen, und ich fühle mich seltsam leer, wenn ich die Küche verlasse und auf mein Zimmer gehe, dort ist es auch still, und selbst wenn ich spiele, tue ich dies schweigend, weil ich dann das Gefühl habe, gar nicht da zu sein, und wenn ich nicht da bin, hat meine Mutter vielleicht keine Bauchschmerzen mehr und kann nach Amerika gehen. Als ich damals den Kokon das erste Mal spürte, fühlte ich mich unsichtbar, jetzt versuche ich, unsichtbar zu werden. Und es gelingt mir, Stück für Stück ein bisschen mehr, bis ich irgendwann gar nichts mehr spüre. Ich teste das immer wieder, und irgendwann gelingt es mir, mich tief mit der Rasierklinge meines Vaters zu schneiden, ohne dass es weh tut. Doch es blutet sehr heftig, und weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun soll, rufe ich verwirrt nach meiner Mutter, als sie kommt, sieht sie erschrocken aus, greift dann beherzt zum Erste-Hilfe-Kasten und verbindet meinen Finger. Für den Moment scheint sie keine Schmerzen mehr zu haben, und das ist gut.

       Aber ich werde keine Ritzerin auf Dauer, denn meine Mutter scheint meine Taktik zu durchschauen, und ihre Besorgnis nimmt wieder ab. Bis ich krank werde, immer wieder und immer wieder, trotz aller Anstrengung schaffe ich es nicht, mich tatsächlich in Luft aufzulösen, denn habe ich die eine Erkältung gerade hinter mir, erreicht mich die nächste schwere Bronchitis. Mein Glück ist, dass ich eine gute Schülerin bin und mir die vielen Fehlzeiten nichts ausmachen, sonst wäre ich wahrscheinlich woanders gelandet als da, wo ich heute bin.

       Meine Mutter kocht literweise Tee, Hühnersuppe, liest mir Geschichten vor, sitzt mit mir stundenlang in Wartezimmern, an meinem Bett, tagelang, nächtelang. Ich sei kränklich, erzählt sie unseren Nachbarn, ich weiß nicht, was das Kind hat, aber der leiseste Windstoß scheint sie umzuhauen, von wem hat sie das bloß, oder ist das normal, ich mache mir solche Sorgen, ich weiß gar nicht, was ich noch machen soll, meine Mutter wird darüber noch dünner, und auf ihrer Stirn bilden sich tiefe Falten, die nicht mehr vergehen.

       Manchmal, wenn ich mit fiebrig heißem Kopf im Bett liege, mache ich mir Vorwürfe. Ich bin immer noch sichtbar, also wird meine Mutter für immer hier bleiben müssen. Aber manchmal, wenn es mir besonders schlecht geht und ich nur noch vor mich hindämmere, habe ich auch für kurze Zeit das Gefühl, dass alles normal ist. Ein krankes Kind, eine besorgte Mutter. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihr Kleines, und das wird schließlich wieder gesund, und alles ist gut, so ist es doch in den Büchern, den Filmen, die ich kenne, das ist normal, so soll es sein. Oder nicht?

       Oft bringt mir meine Mutter Geschenke ans Bett, neues Spielzeug, Tonnen an Büchern, Plüschtieren, und um mich herum baut sich ein riesiger Wall auf, es ist so viel Zeug, dass ich kaum mehr Platz auf meiner Matratze habe. Pflichtschuldig spiele ich mit den Sachen, obwohl sie mich mit Ekel erfüllen, weil es mir eigentlich unangenehm ist, etwas geschenkt zu bekommen, denn jedes Ding, das ich besitze, zeigt, dass es mich gibt, und ich wünsche mir weiterhin nichts mehr, als dass es nicht so ist. Aber meine Mutter scheint zu hoffen, dass ich durch den ganzen Kram wieder gesund werde, als sei Krankheit etwas, das man abbezahlen müsse, ein wucherndes Gebilde, dem man nur durch magische Mittel beikommen kann.

       An meinen Vater erinnere ich mich kaum, er ist in dieser Zeit so gut wie nicht vorhanden, er kommt nie an mein Bett, als habe er panische Ängste, sich bei mir anzustecken, aber manchmal höre ich ihn, wenn ich nachts vor Durst aufwache, dann dringen die Stimmen meiner Eltern plötzlich von unten zu mir herauf, lautstark. Eines Nachts macht meine Mutter meinem Vater wieder Vorwürfe, dieselben wie immer, du kümmerst dich gar nicht um sie, ist dir eigentlich egal, wie es ihr geht, du hast eine Familie, schon vergessen, ich mache seit Wochen nichts anderes, als sie zu pflegen, aber du kommst weiterhin nach Hause, wann es dir passt, ich kann nicht mehr, verstehst du, ist dir das überhaupt klar? Mein Vater brummelt daraufhin nur etwas Unverständliches, was dafür sorgt, dass die Tirade meiner Mutter neue Höhen erklimmen, sie fängt an zu weinen und schreit noch lauter als vorher, ich habe es total satt mit dir, am liebsten würde ich dich verlassen, wenn das Kind nicht wäre, hätte ich es schon getan, da sei dir sicher, ich wäre schon längst woanders, wenn du wüsstest, glaub ja nicht, dass ich dich nötig habe, jetzt sagt mein Vater nichts mehr, wahrscheinlich hat er seine undurchdringliche Miene aufgesetzt.

       Schließlich kommt meine Mutter die Treppe herauf und setzt sich im Dunkeln an mein Bett. Als sie bemerkt, dass ich wach bin, schnieft sie laut, dem habe ich aber mal die Meinung gesagt, es kann doch nicht sein, dass er sich hier um nichts kümmert, er ist doch dein Vater, aber du scheinst ihm völlig egal zu sein, das war von Anfang an so, ich kann mich noch erinnern, als du geboren wurdest, da ist er auch ins Büro gefahren, weil er mir nicht glaubte, dass ich Wehen habe. Sie lacht kurz und bitter auf, und durch die Bewegung ihres Kopfes fällt plötzlich das Flurlicht auf ihr Gesicht, sie sieht verweint aus, aufgelöst, aber auf eine seltsame Weise auch irgendwie dankbar, dass ich ihr durch mein Kranksein eine Rechtfertigung gegeben habe, meinem Vater endlich einmal alles zu sagen. Fast alles.

       Irgendwann fängt sich meine Mutter wieder. Und irgendwann steht wieder ein Mann in unserem Wohnzimmer, ich habe ihn schon vorher einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Er ist um einiges älter als meine Mutter, seine Haare oben auf dem Kopf sehen anders aus als an den Seiten, und er hat ein falsches Lächeln, unbeholfen tätschelt er mir auf dem Kopf herum, und ich bin froh, als meine Mutter sagt, ich dürfe nach oben gehen. Ich schließe meine Zimmertür, doch ich höre trotzdem ihr Lachen zu mir dringen, Jochen, sagt meine Mutter, du bist wirklich ein Charmeur.

       Ich bin vor kurzem zehn Jahre alt geworden und gehe nun aufs Gymnasium. Es ist ein unüberschaubares Gebäude mit unzähligen Treppen, Fluren und Klassenzimmern, mit Tausenden von Kinderaugen, die mich prüfend musternd, sie merken sofort, dass ich nicht so bin wie sie, und anders als meine Mitschüler auf der Grundschule sind sie erbarmungslos deutlich in ihrem Urteil, ich verstecke mich vor ihnen während der Pause auf dem Klo und drücke mir die Hände auf die Ohren, um ihr hämisches Kichern nicht zu hören, trotzdem bekomme ich jeden Tag heftige Bauchschmerzen. Da sich diese neue Schule in einer zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernten Stadt befindet, fährt mich meine Mutter jeden Morgen dorthin und holt mich mittags wieder ab, das ist mühsam, für uns beide, denn sie ist eine sehr unsichere Fahrerin, und die Strecke über die Autobahn überfordert sie jedes Mal sichtlich, sie flucht und schreit und kriegt Schweißausbrüche, wenn sich ihrem kleinen Auto von hinten ein Lastwagen nähert, ich hasse diese Fahrten mit ihr.

       Vielleicht aus diesem Grund, vielleicht aber auch, weil meine Eltern das Dorfleben inzwischen satt haben, beschließen sie eines Tages, in die Stadt zu ziehen, in eine Wohnung, die meiner Schule genau gegenüber liegt. Doch als mir meine Eltern von dem bevorstehenden Umzug erzählen, fange ich an zu weinen, ich liebe unser Haus, trotz allem habe ich gerne hier gewohnt, in meinem Zimmer hatte ich immer meine Ruhe, weil meine Eltern sich meistens im unteren Stockwerk aufhielten, in der neuen Wohnung wird alles auf einer Ebene sein, und ich werde nie mehr ungestört sein, das ahne ich schon so früh.

       Aber meine Eltern haben ihre Entscheidung gefällt und außerdem beschlossen, dass ich während der Einpackerei nicht anwesend sein soll, sie kann doch ein paar Tage bei Jochen verbringen, schlägt meine Mutter vor, und da fällt mir plötzlich ein, woher ich ihn kenne: Er war einmal bei uns zum Essen eingeladen, er ist ein Geschäftspartner meines

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