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Ich sitze ihr stumm gegenüber, während sie mir die Ergebnisse ihrer nächtlichen Wanderungen präsentierte, die Ursachen für meine Schlaflosigkeit und meine angeblichen Rückenschmerzen herunter betet, du bist einfach zu ernst, das bist du immer schon gewesen, schon als kleines Mädchen warst du so ernst und nie mal richtig albern, immer wolltest du allein für dich sein, nie durfte ich dir Kinder einladen, und so bist du heute noch, alles willst du mit dir selbst abmachen, warum redest du nicht einfach mal mit mir, ich bin doch deine Mutter, verdammt noch mal. Doch ich schweige, koche frischen Tee, den ich wie einen Schutzwall zwischen uns auf den Tisch stelle, und erzähle ihr nichts von meinem Arztbesuch und der alten, neuen Diagnose, denn ich ahne, was sie darauf sagen würde: Ich weiß wirklich nicht, woher du das hast, mein Kind, du hast doch immer alles gehabt, alles bekommen, was du wolltest, vielleicht kommt das ja von der Seite deines Vaters, das ist natürlich möglich, da gibt es ja so einiges, was ich bis heute nicht verstehe.

       Sie hat es sich immer ziemlich einfach gemacht, während ich lange Zeit mit großer Akribie und Hingabe in meinen Wunden herumgestochert habe. Wenn sie zu verschorfen drohten, habe ich solange weitergekratzt, bis ein hässliches Geflecht entstand, auf das ich dann starren konnte und das mir Rechtfertigung bot, warum es mir so ging. Ich habe Jahre damit verbracht, in meinen Therapien meine Kindheit aufzurollen, die Beziehung zu meinen Eltern zu durchleuchten, mich innerlich zu umarmen, doch die Zustände kamen immer wieder, keiner der Therapeuten schien den Schlüssel dazu wirklich gefunden zu haben. Irgendwann beschloss ich, dass ich nicht länger über früher reden, sondern endlich leben wollte, vielleicht war das ständige Stochern Teil des Problems, vielleicht würde ich endlich zur Ruhe kommen, wenn ich alles hinter mir ließe? Falsch gedacht. Nun sitze ich wieder zuhause, mit einem Überweisungsschein in der Hand, auf dem in dünnen Lettern die Diagnose steht: rezidivierende depressive Störung. Ich reiße das Blatt in kleine Fetzen, die der Wind vor meinem Fenster mit sich trägt.

       Schuld ist etwas, das man nur bedingt abarbeiten kann, wenn jede Zelle des eigenen Körpers davon durchdrungen ist.

       Kurz bevor ich in den Kindergarten komme, ziehen wir um, in ein kleines Dorf mit Einfamilienhäusern. Hessisches Hinterland mit rasierten Vorgärten, eine enge Straße, in der die inländischen Autosorten dicht an dicht stehen, mit glitzerndem Lack, sie spiegeln den moderaten Wohlstand der Siebziger Jahre, in denen für viele die Geschäfte gut laufen und man sich Dinge leisten kann. Mein Vater hat sich vor kurzem mit einer eigenen Werbeagentur selbständig gemacht und kann sich vor Aufträgen nicht retten, und da er den Mythos des deutschen Bürgertums verinnerlicht hat, ist es für ihn ein natürlicher Vorgang, nun von einer Stadtwohnung in ein Haus auf dem Land zu ziehen, während meine Mutter bei dieser Aussicht innerlich zusammen schrumpft, sich plötzlich wieder findet im Lebenstraum ihrer eigenen Eltern, in dem viel zu kleinen Glück, das sie selbst immer abgelehnt hat.

       Doch eines Tages, als meine Mutter und ich zum Einkaufen gehen, wird neue Hoffnung für sie sichtbar, und gleichzeitig verändert sich plötzlich das Leben, das ich bisher kannte. Wir stehen gerade beim griechischen Gemüsehändler an der Kasse und bezahlen, als sich irgendetwas um mich herum zusammen zieht. Ich kann es selbst heute nicht besser beschreiben, was damals passierte, doch ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, das ich damals hatte. Als habe ich mit einem Mal weniger Luft zum Atmen und sei in einem seltsamen Kokon gefangen, der durchsichtig und dennoch undurchdringlich ist, ich will mich bewegen, aber meine Arme und Beine gehorchen mir nicht, ich blicke meine Mutter an, will etwas zu ihr sagen, doch sie sieht nicht zu mir, sondern zu einem Mann, der gerade den Laden betritt und sich suchend umblickt, die bis zum Bersten gefüllten Regale mustert. Als er dabei zufällig meine Mutter ins Visier bekommt, runzelt er irritiert die Stirn, doch auf ihr Gesicht ist bereits ein Strahlen getreten, sie sieht aus, als leuchte sie von innen, mit weit aufgerissenen Augen wandert sie mit der Zungenspitze über ihre leicht geöffneten Lippen, fährt sich kurz und zielsicher mit der Hand durch die Haare und zerwühlt sie ein wenig, geht dann auf den Mann zu, während ich immer noch bewegungsunfähig neben dem alten Griechen stehe. Der glotzt irritiert auf mich herunter und fragt mich etwas, aber ich kann ihm nicht antworten, ich kann nur mit ansehen, wie meine Mutter mit diesem fremden Mann redet, sie lacht und wirft dabei den Kopf in den Nacken, ich erkenne sie nicht wieder, und doch kann ich nicht woanders hinsehen, ich kann mich, meinen Körper nicht bewegen, ich bin zu Eis erstarrt. Und unsichtbar. Ich - bin – unsichtbar, während meine Mutter und der fremde Mann verlegen umeinander herum tänzeln, nicht die anderen Kunden beachten, die sich mühsam einen Weg um sie herum bahnen müssen, sie existieren in einem anderen Universum, einer anderen Galaxie, Sternschnuppen fallen vom Himmel herab und verglühen zwischen den Orangenkisten, Welten entstehen und vergehen, erst Tausende von Lichtjahren später verabschiedet sich der Mann und verlässt den Laden wieder, ohne etwas gekauft zu haben, er hat es wohl vergessen. Meine Mutter scheint in diesem Moment ein Stück in sich zusammen zu sacken, als habe sie plötzlich den notwendigen Fixpunkt zur aufrechten Haltung verloren, ein gewöhnlicher Planet benötigt nun einmal eine Sonne, um die er sich drehen kann, dann wendet sie sich mit einem abwesenden, leicht verwirrt wirkenden Ausdruck zu mir um und nimmt mich an der Hand, zerrt mich und unsere Einkaufstüten nach draußen. Ich kann mich nun seltsamerweise wieder bewegen, stolpere hinter ihr her, frage sie, wer dieser Mann gewesen sei, aber sie zögert, will mir erst nicht antworten, dann erwidert sie ausweichend, ich solle Papa nichts davon erzählen, sie kenne den Mann von früher. Ich verstehe damals noch nicht, was das bedeutet. Erst später begreife ich, dass sie damit wohl auf die freie Phase vor ihrer Ehe angespielt hat. Und damit beginnt sie, die Zeit der Unsichtbarkeit. Und der Geheimnisse.

       Es wohnen viele Kinder in unserer Straße, und manchmal spiele ich mit ihnen. Nicht sehr oft, denn am liebsten bin ich allein in meinem Zimmer, doch meine Mutter schickt mich immer wieder nach draußen, damit ich „Freunde finde“. Als ich in die Grundschule komme, habe ich schließlich einen besten Freund. Er heißt Hendrik, ist über vier Jahre älter als ich und hat mich aus unerfindlichen Gründen unter seine Fittiche genommen. Ich weiß bis heute nicht, wieso, aber er schleppt mich überall hin und zeigt mir alles, und ich schaue zu ihm auf und genieße seine Aufmerksamkeit. Oft sind wir in seinem Garten, der ein paar Häuser von unserem entfernt liegt, und spielen mit seinen Kaninchen, die dort ihren Stall haben. Seine Eltern sind auch sehr nett, außerdem hat er noch eine jüngere Schwester, mit der ich mich ebenfalls ganz gut verstehe, und eine Zeitlang gehe ich in ihrem Haus ein und aus. Es ist ein neues Gefühl für mich, bei anderen Leuten so willkommen zu sein, ich liebe es.

       Auch meine Eltern bauen die neue Bekanntschaft stetig aus, an manchen Wochenenden grillen wir bei Hendriks Eltern, an anderen kommen sie zu uns herüber und sitzen bis spät abends auf unserer Terrasse. Eines Sonntags, mein Vater ist gerade kurz in den Keller gegangen, um neue Getränke zu holen, und Hendriks Mutter auf der Toilette, spüre ich, dass das Gefühl wieder kommt, sich drohend nähert wie ein bissiges Tier. Der Kokon. Ich kriege sofort Angst, aber sitze wie angewurzelt auf der Schaukel und kann nichts anderes tun, als zu meiner Mutter herüber zu starren, die Hendriks Vater gerade Salat auf den Teller häuft, dabei streift sie wie zufällig mehrmals seine Hand, lächelt, öffnet ihre Lippen, das strahlende Sonnenlicht bringt ihre Haare zum Funkeln, ich zittere, will zu ihr laufen, aber ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper, kann mich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Plötzlich steht Hendrik neben mir, er will mich anstoßen, damit ich wieder in Schwung komme, doch als ich ihn davon abhalten will, merke ich, dass mein Mund wie zugewachsen ist, so kommt es, dass er mir einen Schubs gibt und ich herunter stürze, weil meine Hände mir nicht mehr gehorchen, ich mich nicht mehr festhalten kann, ich falle auf mein rechtes Knie und schreie vor Schmerz auf, aber plötzlich ist der Kokon weg und meine Mutter an meiner Seite, sie befühlt mein blutendes Knie und tröstet mich, während Hendriks Vater auf seinen Sohn einschimpft, dass er besser habe aufpassen sollen, ich will ihn in Schutz nehmen, aber ich kann nur weinen und den Kopf im Schoß meiner Mutter vergraben.

       Als ich einige Wochen später aus der Schule komme, sehe ich meine Mutter das Gartentörchen von Hendriks Elternhaus hinter sich schließen. Ich laufe zu ihr, um sie zu begrüßen, um sie nach den Kaninchen zu fragen, aber sie wirkt seltsam in sich gekehrt, lächelt vor sich hin mit ihren zerzausten Haaren, und im ersten Moment scheint sie mich nicht zu erkennen, ihre Umarmung ist fahrig und unsicher. Wir gehen nach Hause, und sie kocht einsilbig Mittagessen, hört sich abwesend meine Geschichten aus der Schule an, erklärt sich nicht.

      

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